Buchauslese »Eine andere Epoche«

Ulf Erdmann Zieglers »Eine andere Epoche« ist für Marlen Dettmer eine lohnenswerte literarische Reise in die nahe Vergangenheit der Bundesrepublik. Oder ist es eher die erweiterte Gegenwart?! »Eine andere Epoche« spielt in den Jahren 2011 bis 2013; in der Zeit, in der das NSU-Terrortrio und mit ihm die rechtsradikalen Abgründe im demokratischen Staat auffliegen und dem sich anschließenden Untersuchungsausschuss, der über den Politbetrieb hinaus von Interesse ist und dessen Vorsitzender Sebastian Edathy zurücktritt, nachdem ihm der Besitz kinderpornographischen Materials vorgeworfen wurde; es ist die Zeit der »Affäre Wulff« und der steilen Karriere mit abrupten Ende des Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler. Die SPD sitzt in diesen Jahren auf der Oppositionsbank.

Ulf Erdmann Ziegler spielt geschickt mit diesen Fakten und der Fiktion. Es ist keine allzu große politische Kenntnis notwendig, um zu erkennen, an welche historischen Personen die Romanfiguren angelehnt sind, sei es der SPD-Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Andi Nair oder der FDP-Vizekanzler Flo Janssen. Und mittendrin ist Wegman Frost, Büroleiter von Andi Nair, eine Figur, die vieles sieht, ohne dabei gesehen zu werden, aus dessen Perspektive reflexiv und essayistisch erzählt wird. »Wollte man etwas mitteilen über die Welt und ihre Geschichte, wäre es nicht besser, über Alexander den Großen zu schreiben, über Mahatma Gandhi oder Angela Merkel? Was können wir lernen von denen, die für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten? Oder ist es vielmehr so, dass wir nichts lernen können von denen, die bereits wissen, und deshalb unsere Aufmerksamkeit auf jene richten, die selbst noch am Lernen sind? Oder sollte man sagen am Wachsen?« Wegmann Frost öffnet den Leser*innen Türen zum Berliner Politbetrieb, zu den komplexen Mechaniken der Ausschüsse, Seilschaften und Freundschaften. Mit wenigen sicheren Strichen gelingen Ulf Erdmann Ziegler dabei immer wieder tiefenscharfe Milieustudien und Figurenzeichnungen. Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat oder doch ganz anders lässt sich natürlich nicht sagen, aber es hätte zumindest so sein können. Bibi Burose, ehemalige Kollegin und immer wiederkehrende Gesprächspartnerin von Wegmann Frost antwortet auf Wegmanns Frage »Und es gibt keine Wahrheit?«: »Oh doch, eine Wahrheit gibt es. Aber niemanden, der sie kennt«.

Zu Beginn des Romans zerschneiden ein Banküberfall und ein ausgebranntes Wohnmobil in Eisenach die Oppositionsroutine der SPD-Protagonisten, aber nicht nur diese: »An diesem Tag, einem Freitag, veränderte sich die Bundesrepublik Deutschland. Sie wusste es noch nicht, aber Wegmann, der von seinem Schreibtisch aus durch zwei offene Türen Andi Nair in seinem Zimmer beobachten konnte, sah diesem dabei zu, wie er mit glasigen Augen in eine ungewisse Zukunft starrte«. Das Ende einer rechten Terrorzelle ist der Anfang von vielen Fragen und offenen Antworten. Wegman Frost protokolliert im NSU-Untersuchungsausschuss das Geschehen. Sein Vertrauen ins demokratische System wird zunehmend erschüttert, das Versagen der Behörden offenbar. »Dass etwas im ganz großen Stil schiefgelaufen war, konnte niemand bestreiten. Je forscher die Fragen, desto ratloser die Antworten. Man war herausgetreten aus der Logik der Politik, des Rechts und der Verwaltung. Der Konsens der Parteien im Ausschuss hatte etwas Flüchtendes

Aber nicht nur der Politiker Wegmann Frost ist betroffen, auch der Privatmann. Er ist als Pflegekind bei seinem Onkel in der norddeutschen Provinz aufgewachsen, der Vater ein Native American, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat, die Mutter ohne Interesse an dem Kind, das sie bei ihrem Bruder zurücklässt. Die Frage nach seiner eigenen Identität vermischt sich mit der Suche nach dem Selbstbild eines Staates, in dem jahrelang unentdeckt rechter Terror ausgeübt werden konnte. »Eine andere Epoche« erzählt über den Bundestag hinaus von Wegmann Frosts Leben und dem seiner Wegbegleiter*innen, von seiner Beziehung zu der Immobilienmanagerin Marion Wrede Bustamente und deren Tochter Ellie, in Rückblicken von seiner Kindheit in Amerika und Bückeburg und seiner politischen Sozialisation in der SPD, von zu interpretierenden Träumen und Versuchen über Häuser und das Glück und der Suche nach Verortung, z. B. der eines schwulen katholischen Sozialdemokraten in der lippischen Provinz. Und von einer Bielefelder Professorin, die zu Weihnachten eine Edelfichte aus dem Teutoburger Wald mit Zug und Taxi nach Berlin bringt und an die Außenfassade des Restaurants lehnt, in dem sie mit Wegmann Frost über die Causa Wulff debattiert. Aus diesen vielen Puzzleteilen ist ein empfehlenswerter Roman entstanden, der mit klaren Erzählsträngen, pointierten Dialogen und (philosophischen) Betrachtungen sprachlich überzeugt und nach der Lektüre nachhallt, die Vergangenheit ein wenig mehr ans Jetzt bindet.

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