Buchauslese »1000 Serpentinen Angst«

Seit einiger Zeit fällt Ostdeutschland medial vor allem durch Negativschlagzeilen auf. Da ist es unserer in Leipzig lebenden Mitarbeiterin Josephine Klüver, einzige Ostdeutsche im OWL-Team, eine Herzensangelegenheit, in ihrer Buchempfehlung den Lesenden eine andere Perspektive auf Ostdeutschland zu eröffnen.

Mit dem eigenen Romandebüt auf der Longlist des deutschen Buchpreises zu landen, bleibt für viele Jungautor*innen ein kühner Traum. Im Gegensatz zu Olivia Wenzel, in Weimar geboren und in Berlin lebend, der genau das mit ihrem Debüt »1000 Serpentinen Angst« im vergangenen Jahr gelang. (Übrigens befand sich unter den Nominierten ein weiteres, sehr lesenswertes Debüt: »Streulicht«, von der in Leipzig lebenden Deniz Ohde.)

Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahngleis in irgendeiner Stadt. (Aus: Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst, S.9)

Die Geschichte beginnt an einem Bahngleis und nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Mal befindet sich die Protagonistin in New York, mal auf den Straßen Berlins, mal bereist sie Marrokko. Wenzel beschreibt in Fragment artigen Rückblicken die Kindheit der Protagonistin, die das Aufwachsen in Ostdeutschland nachempfinden lassen. Nach und nach entfaltet sich die Geschichte ihrer Familie: von der gefühlskalten Mutter, die Punkerin in der DDR war, dem weit entfernten Vater in Angola, der linientreuen Großmutter und deren Blindheit für die Rassismuserfahrungen ihrer Enkelin. Und von ihrem Zwillingsbruder, der noch vor der Volljährigkeit das Leben verloren hat.

Dabei überrascht »1000 Serpentinen Angst« mit einer besonderen Art des Erzählens: Es gibt eine zweite Erzählstimme. In Großbuchstaben kommentiert oder (hinter-)fragt diese die Protagonistin und verleiht der Erzählung damit eine Geschwindigkeit, die Raum und Zeit mühelos miteinander verschwimmen lässt. Dabei eröffnet der Roman eine außergewöhnliche Perspektive auf die ostdeutsche Nachwende-Generation. Mit der außergewöhnlichen Erzählstruktur werden Angstgefühle und Beklemmungen erlebbar gemacht, mit denen PoC [People of Color] in Ostdeutschland konfrontiert wurden.

Wenzel seziert tiefsitzende Traumata und lässt Schmerz, Trauer und Rassismuserfahrungen durch Erinnerungen aufleben. Es geht um Herkunft, Verlust und den Mut, all das hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen. Wie es ist, aufzufallen, sich gar vor der Gesellschaft verstecken zu müssen. Der Roman liefert allerdings so viel mehr als nur die Verarbeitung familiärer Traumata. Immer wieder kommt Kritik an der Wendezeit durch, die sich beispielsweise in scharfsinnig gestellten Fragen niederschlägt: Warum fand nach dem Mauerfall in Westdeutschland nichts Anerkennung, das der Osten bis dahin hervorgebracht hatte?

Doch nicht nur thematisch ist das Buch empfehlenswert. Hinzu kommt die Sprache. In minutiösen Beobachtungen und gelungenen Metaphern zeichnet Wenzel großartige Bilder, die die Leserschaft mitnehmen und bewegen. Zudem gelingt es ihr, gesellschaftliche Probleme so in Selbstreflexionen zu verpacken, dass sie keineswegs belehrend wirken.

Damals in Marokko saß ich ein paar Tage nach Kims Abreise lange am Strand. Irgendwann kommt ein Mann vorbei, Ich bin Hafik, hallo, wie geht’s? Er setzt sich neben mich, erzählt mir, er sei Fischer. (…) Dann erzählt er von seinem anderen Job, den er in der Hochsaison macht. Mit regionalen Ölen am Strand spanische Touristen massieren. Ich frage, welche Arbeit er lieber mag. Er schaut mich irritiert an. Als ich ansetze, die Frage zu wiederholen, realisiere ich, was sie über mich aussagt. (Aus: Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst, S.91f)

Obschon die Themen sehr ernst sind, bereitet »1000 Serpentinen Angst« Vergnügen beim Lesen. Wenzel gelingt es, in ihrem brillanten Romandebüt die Verzweiflung der Generation Y und ein Leben voller Ängste auf eine erfrischende und humorvolle Art und Weise zu skizzieren. Absolut empfehlenswert!

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