Buchauslese – Teil 25

Derzeit gehen wieder Nachrichten und Berichte aus Afghanistan um die Welt. Insbesondere die Schicksale von Mädchen und Frauen unter der erneuten Herrschaft der Taliban liegen für uns zumeist außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Es sind verstörende Bilder und Geschichten, die Marlen Dettmer an den Roman »Tausend strahlende Sonnen« des afghanischen, im amerikanischen Exil lebenden Autors Khaled Hosseini, denken lassen. Das Buch ermöglicht einen kleinen Einblick in den Alltag afghanischer Frauen. Khaled Hosseini sagte dazu in einem Interview: »Als die Sowjets das Land verlassen haben, wurden die Frauen systematisch aller Rechte beraubt. Sie wurden zu Hause eingesperrt, durften das Haus nicht verlassen, nicht arbeiten gehen. Es ist so jämmerlich, was da passiert ist, dass ich darüber schreiben und erzählen musste.«

Erzählt werden die Geschichten von Mariam und Laila, zwei Frauen in Afghanistan. Die Zeitspanne umfasst die Jahre ab ca. 1965 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Man erlebt zusammen mit den beiden Protagonistinnen den Sturz der Monarchie und die Republik, die Invasion der Sowjets und den darauffolgenden Bürgerkrieg, der in der Herrschaft der Taliban mündet und schließlich gibt es einen Ausblick auf die Zeit nach den Taliban (die aus heutiger Perspektive dramatischer Weise schon wieder Vergangenheit ist). Während in Hosseinis berühmten Roman »Drachenläufer« Männer, Vater und Sohn, und die Frage nach Schuld und Sühne im Mittelpunkt stehen, so widmet der Autor diesen Roman den Frauen seines Landes, die Willensstärke und weibliche Solidarität der männlichen Gewalt, dem Elend und politischer Willkür entgegensetzen.

Mariam, ein uneheliches Kind, das in einfachen Verhältnissen in der Nähe von Herat aufwächst, wird nach dem Selbstmord ihrer Mutter an den 30 Jahre älteren Schuster Raschid verheiratet. Jahre später kommt Laila, eine selbstbewusste Lehrerstochter und Mariams Nachbarin, auf die Welt. Schule und Bildung nehmen in ihrem Leben großen Raum ein, bis sie eines Nachts durch einen Anschlag der Mudschahedin zur Waise wird und gezwungen ist, die zweite Frau von Raschid zu werden. Die Unterdrückung durch die Taliban sowie die Gewalt, die sie von ihrem gemeinsamen Ehemann erfahren, schweißt die beiden ungleichen Frauen letztlich eng zusammen und aus anfänglicher Feindschaft wird eine tiefe und enge Freundschaft. Während der Erzählung springt Khaled Hosseini zwischen den Erzählperspektiven und so erfährt man als Leser*in einmal die Sicht von Mariam und einmal die von Laila.

Neben den Schicksalen der beiden Frauen ist es der Detailreichtum aus dem Alltag in Kabul, der einen als Leser*in berührt: wie eine zunächst lebendige Stadt – in der Mädchen zur Schule und danach fröhlich quatschend nach Hause gehen oder mit dem Akkordeon gespielte Patscho-Lieder zu hören sind – sich durch die gewaltsam verändernden Politstrukturen völlig wandelt und für die Frauen zu einem täglichen Überlebenskampf wird. Da ist z.B. die Beschreibung, wie ein Kaiserschnitt ohne Narkose (im Krankenhaus für Frauen gibt es keine Betäubungsmittel) nicht nur für Mutter und Kind, sondern auch für die Ärztin, die sich im Operationssaal gesetzeswidrig ihrer Burka entledigt, um ihre Arbeit zu tun, zum lebensbedrohlichen Risiko wird. Oder wie es für eine Frau – trotz Verschleierung und Begleitung durch ihren Mann – gefährlich werden kann, wenn sie auf dem Markt zu laut nach dem Preis fragt. Oder auch die von der Mutter, die ihr Kind, das sie, um es vor dem Hungertod zu bewahren, ins Waisenhaus gegeben hat, nicht besuchen kann, da sie alleine nicht auf die Straße gehen darf und ihr Mann keine Lust auf den Fußweg hat.

»Tausend strahlende Sonnen« ist ein Roman, der die Leser*innen trotz des teilweise schwer zu ertragenden Inhalts fesselt. Khaled Hosseini schreibt in einfacher, aber überzeugender Sprache – so verzeiht man auch, wenn zuweilen polarisiert oder Figuren ein wenig eindimensional dargestellt werden. Viele der grausamen Ereignisse werden nicht bis ins Detail geschildert, sondern nur über Randbemerkungen, fast Notizen erwähnt und sind dennoch kraftvoll.

Der Roman zeichnet harte, teilweise entsetzliche Bilder und dennoch schimmert Hoffnung durch. Sei es in der Beschreibung eines Lehrers im Waisenhaus, der unter Lebensgefahr Jungen und Mädchen nicht nur in Religion unterrichtet oder im – zugegebener Maßen ein wenig kitschigen, da sehr glückseligen – Ende, wenn Laila und Afghanistan in kleinen Schritten Richtung Freiheit und Emanzipation gehen. Die Zuversicht ist zudem bereits im Buchtitel angelegt: »Tausend strahlende Sonnen« ist einem Gedicht des im 17. Jahrhundert lebenden persischen Dichters Saib-e-Tabrizi entnommen, das die Schönheit Kabuls preist. Es wird in verschiedenen Zusammenhängen mehrmals im Buch zitiert und erinnert an all das, was Afghanistan eben auch ist: »Nicht zu zählen sind die Monde, / die auf ihren Dächern schimmern, / noch die tausend strahlenden Sonnen, / die verborgen hinter Mauern stecken …«. Und hoffentlich auch bald wieder vor den Mauern strahlen werden.

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