Buchauslese – Teil 15

6 Jahren nach »Pfaueninsel« (2014) hat der deutsche Schriftsteller Thomas Hettche in diesem Bücherherbst 2020 wieder einmal einen Roman vorgelegt. »Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste« hat nicht nur direkt einen Platz in den Bestsellerlisten gefunden, sondern auch im Herzen von Karsten Strack, der seit dem 01. Oktober 2020 die Künstlerische Leitung des Literaturbüros OWL innehat.

»›Das ist der Herzfaden‹, sagt er und zieht mit dem Zeigefinger eine unsichtbare Linie in die Luft von dem armen Hänsel zu ihnen.
›Der Herzfaden?‹ fragt Hatü.
›Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Derr Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.‹«

Diese kurze Gesprächssequenz zwischen dem Gründer der Augsburger Puppenkiste, Walter Oehmichen, und seiner Tochter Hannelore, genannt Hatü, ist gleichsam programmatischer Leitfaden und emotionaler Herzfaden für Hettches Roman, in dem der Autor zwei Erzählebenen wie ein meisterhafter Puppenspieler ineinanderfließen lässt: Auf der einen Ebene wird die Geschichte der Augsburger Puppenkiste literar-historisch aufgearbeitet, die andere (phantastische) Ebene mutet durchaus wie eine Alice-im-Wunderland-Variante an – schließlich lässt Hettche dort ein 12-jähriges (namenloses) Mädchen in den Räumlichkeiten der Augsburger Puppenkiste eine unscheinbare Holztür entdecken und mit dieser das dahinter steckende geheimnisvolle Reich, in dem die bekannten Holzfiguren und als übergeordnetes Wesen ihre Schöpferin Hatü herrschen.

Auf diesen beiden Ebenen und in der Interaktion derselben erfolgt nicht nur eine lehrreiche und – an diversen Stellen auch – nostalgische Aufarbeitung von allgemeiner Zeit- und Theatergeschichte, sondern hier geht es auch ganz dezidiert um die Befindlichkeiten einer ganzen Generation, die sich noch tief unter dem Eindruck des selbst erlebten Nationalsozialismus auf dem Weg in die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland befindet, aber immer wieder darauf zurückgeworfen wird, wie tief alles in der zurückliegenden Zeit verwurzelt ist. Aus all dem damit verbunden Dunkel heraus lässt der Autor seinen Protagonisten Walter Oehmichen als zukunftsperspektivische Hoffnung verkünden:

»Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an die Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.«

Über diese beeindruckende Mentalitätsgeschichte der Deutschen in den Nachkriegsjahren hinaus bietet der Autor eine grandiose Coming-of-Age-Story sowie eine in vielerlei Hinsicht facettenreiche Familiengeschichte.

Hettche zeigt in »Herzfaden« einerseits seine Meisterschaft als fesselnder und zugleich fein beobachtender Erzähler, andererseits zeigt sich hier auf sehr wohltuende Weise sein Können als akribischer Chronist.

Ich empfehle dieses Buch aus vollem Herzen und verweise gerne auch auf die außergewöhnlich hochwertige Ausstattung und Gestaltung: Hardcover mit Schutzumschlag in klassischem Chic, rotes Leinen, Silberprägung und zahlreiche Feinzeichnungen. Autor und Verlag ist ein sehr gutes Gesamtpaket gelungen!

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