Buchauslese – Teil 20

Eigentlich wollte Marlen Dettmer den Roman »Der Gesang der Flusskrebse« von Delia Owens nach den ersten Seiten gar nicht weiterlesen. Die Leiche am Fuße des Feuerwachturms war nicht das Problem – vielmehr das kleine Mädchen, das mit einer »Schwere, so zäh wie schwarzer Baumwollschlamm« auf den Verandastufen sitzt und auf die Mutter wartet, von der sie nur noch den blauen Koffer im Wald gesehen hat und die nicht wieder zurückkommt. Aber eben diese den Hals zuschnürende kindliche Enttäuschung, Melancholie und Hoffnungslosigkeit sind so vereinnahmend beschrieben, dass Marlen Dettmer das Kind weiter begleiten musste – ob sie wollte oder nicht. Und außerdem war da ja noch die Leiche, deren Todesumstände noch zu klären waren.

Um es gleich vorab zu sagen: Ja, der Roman hat seine kitschigen Stellen und im Plot wird auch das ein oder andere Klischee bedient. Trotzdem hat Marlen Dettmer den »Gesang der Flusskrebse« mit Begeisterung gelesen und empfiehlt ihn hier gerne weiter. Das Buch hat »Schmöker-Qualitäten«. Die inhaltliche Mischung aus einer außergewöhnlichen Protagonistin, Krimi, Gerichtsdrama, Entwicklungs- und Liebesroman zieht einen förmlich hinein in die Geschichte von Kya Clarke, dem »Marschmädchen«, wie sie von den Menschen aus der Ferne genannt wird. Und all das, was geschieht, ist eingebettet in die karge Landschaft der Marsch in North Carolina. Die Natur und die Tiere dieses Landstreifens an der Ostküste der USA sind zugleich Rahmen als auch Hauptdarsteller und Unique Selling Point dieses Buches, wunderschön und poetisch in Sprache und Szene gesetzt: »[…] doch wie aufs Stichwort erfüllte der vertraute Gesang von Baumfröschen und Heuschrecken die Nacht. Tröstlicher als jedes Schlaflied. Die Dunkelheit barg einen süßlichen Geruch, den erdigen Atem von Fröschen und Salamandern, die wieder einen brütend heißen Tag überstanden hatten. Dann schmiegte sich die Marsch mit einem Bodennebel an, und Kya schlief ein.«

Kyas Geschichte wird auf zwei sich abwechselnden Zeitebenen erzählt. Die eine Achse beginnt 1952 und begleitet Kya vom Verlassenwerden bis zu ihrem Tod 2009, die andere fokussiert auf die Jahre 1969 und 1970 mit den Ermittlungen und dem Prozess rund um die Feuerwachturmleiche.

Kya ist zu Beginn des Romans sechs Jahre alt und lebt mit ihren Geschwistern und ihren Eltern in Armut in einer einfachen Hütte mitten in der Marsch. Nach der Flucht ihrer Mutter entfliehen nach und nach auch ihre Geschwister dem gewalttätigen Vater und der Perspektivlosigkeit ihres Lebens. Nachdem auch der Vater sie verlassen hat, ist die 10-jährige Kya allein. Natur und Tiere der Marsch werden ihr zur Familie:  »Bis irgendwann, in einem unbemerkten Moment, der Schmerz versickerte wie Wasser in Sand. Noch immer da, aber tief unten. Kya legte ihre Hand auf die atmende nasse Erde, und die Marsch wurde ihr zur Mutter.« Owens entwirft eindringliche, oft lyrische Panoramen der Stille und Einsamkeit. Lange Passagen des Romans erzählen allein von Kya und ihrem Alltag im Marschland; es sind die intensivsten Momente, weil es der Autorin gelingt, die Schönheit der Landschaft einzufangen.  

Obwohl Kya »mit ihrem Planeten und seinem Leben auf eine Weise verbunden [war], wie das nur wenige Menschen sind. Fest in seiner Erde verwurzelt« ist sie einsam. Die Bewohner*innen der nächstgelegenen Stadt beäugen sie mit Misstrauen und Vorurteilen, allein der Händler Jumpin und seine Frau Mabel bringen ihr Zuneigung und Unterstützung entgegen. Und dann begegnet sie als junge Frau Tate Walker und Chase Andrews, zwei Männern, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Nähe suchen. Als Kya sich ihnen öffnet, verändert das ihr Leben ungeahnt. Hier verbinden sich die beiden Erzählstränge, denn der eine der zwei Männer, Chase Andrews, ist die Leiche zu Beginn des Romans – er liegt 1969 tot am Fuße des Feuerwachturmes. In kurzen Episoden wird von den Ermittlungen der Polizei erzählt, die bald zu Kya führen und die des Mordes an Chase angeklagt wird. Im Gerichtssaal laufen dann die Fäden von Vergangenheit und Gegenwart und damit die beiden Erzählebenen zusammen. Und, so viel sei verraten, es gibt bei diesem so traurig beginnenden Roman ein happy end, auch wenn oder gerade weil es wieder in die Einsamkeit der Marsch zurückgeht: »Schließlich brach die Nacht an, und Tate ging zurück in Richtung Hütte. Aber als er die Lagune erreichte, verharrte er unter dem niedrigen Blätterdach und beobachtete Hunderte Leuchtkäfer, die ihre Lockzeichen tief in die dunklen Weiten der Marsch sandten. Bis dahin, wo die Flusskrebse singen.«

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