Bei dem momentanen Infektionsgeschehen fällt es schwer, vorweihnachtliche Stimmung aufkommen zu lassen. Überhaupt scheint es in Gesprächen und Medien kaum ein anderes Thema als Corona zu geben. Als unsere Mitarbeiterin Josephine Klüver jüngst Berichte über die humanitäre Katastrophe hörte, die sich in Nordsyrien aufgrund akuten Trinkwassermangels bei den dort lebenden Kurd*innen abspielt, musste sie an »Die Sommer« von Ronya Othmann denken. Das Romandebüt entführt die Lesenden aus dem kalten Deutschland in die sommerliche Hitze Nordsyriens und bringt die Diskriminierung von jesidischen Kurd*innen auf berührende Weise nahe und erweitert ganz nebenbei den politischen Horizont.
Der im vorherigen Jahr im Hanser Verlag erschienene Roman erzählt die Geschichte von Leyla, einer Frau Mitte zwanzig, die – genau wie Othmann – in Deutschland aufwächst, die Sommerferien jedoch bei der Familie ihres kurdisch-jesidischen Vaters in einem Dorf in Nordsyrien verbringt. Dann bricht 2011 der Bürgerkrieg in Syrien aus und die Ferienaufenthalte enden abrupt. Von Deutschland aus verfolgt Leyla mit zunehmender Ohnmacht die Schreckensnachrichten.
Jeden Sommer flogen sie in das Land, in dem der Vater aufgewachsen war. Das Land hatte zwei Namen. Der eine stand auf Landkarten, Globen und offiziellen Papieren. Den anderen Namen benutzten sie in der Familie. (…) Das eine Land war Syrien, die Syrische Arabische Republik. Das andere war Kurdistan, ihr Land. Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das. [Ronya Othmann: Die Sommer, S.13]
Es sind Schilderungen aus der kindlichen Perspektive von Leyla, die die Lesenden mitreißen. Dabei ist die Sprache klar und schlicht, so schnörkellos und kontrastreich wie eine staubige Dorfstraße in der flirrenden Mittagshitze. Mit genauen Beobachtungen und Beschreibungen, die alle Sinne ansprechen, kreiert Othmann ein detailliertes Bild von der Lebensrealität jesidischer Kurd*innen. Doch man taucht nicht nur in den Alltag einer seit Generationen gewachsenen Dorfgemeinschaft ein. Zu den unschuldigen Kindheitserinnerungen mischen sich Berichte über die Diskriminierung, die Vertreibung und den vom IS verübten Genozid an den jesidischen Kurd*innen. Neben der Protagonistin Leyla kommen auch andere Familienmitglieder, wie der Vater oder der Onkel, zu Wort und schildern seitenweise aus der Ich-Perspektive ihre Erinnerungen.
Zu gehen, dachte ich damals, sagte der Vater zu Leyla und blickte sie über den Küchentisch hinweg an, ist in erster Linie eine Abfolge von Schritten, mehr nicht. Es sind bloß Schritte. [Ronya Othmann: Die Sommer, S.182]
Die Sommer ist die Geschichte einer Identitätssuche einer Frau, die zwischen zwei Kulturen aufwächst. Es geht um Identität, Auswirkungen von Diktatur und Diskriminierung. Es geht um Ver- und Entwurzelung und eine Heimat, die auf keiner Karte zu finden ist. Auf etwas mehr als 280 Seiten schöpft Othmann ein kulturelles Mosaik, das der Leserschaft ein respektvolles und sinnliches Einfühlen in die Erfahrungswelt der Betroffenen ermöglicht.
Doch Othmanns Roman erfüllt auch einen Bildungsauftrag. Auf den erhobenen Zeigefinger wartet man jedoch vergeblich. Kulturelle Vorstellungen, Diskriminierung, Rollenbilder aber auch politische Ereignisse fließen sensibel in die Geschichte von Leyla und ihrer Familie mit ein und ermöglichen ein besseres Verständnis der Konfliktlinien in Syrien, die in den Bürgerkrieg mündeten. In seiner Aktualität ist der Roman ungeschlagen – denn die Unterdrückung jesidischer Kurd*innen dauert bis heute an.*
Othmann, die aktuell in Leipzig lebt und dort am Literaturinstitut studiert, weiß, wovon sie spricht. Sie schöpft aus ihrer eigenen Geschichte und der ihrer Familie und hat sich bereits in der Vergangenheit mit dem Text »Vierundsiebzig« der Diskriminierung jesidischer Kurd*innen aus einer nonfiktionalen Ich-Perspektive angenährt. 2019 wurde sie dafür mit dem Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Mit ihrem Romandebüt stellt Othmann nun unter Beweis, dass sie auch nonfiktional eine fantastische Erzählerin ist. In »Die Sommer« verbindet Othmann ihr literarisches Talent mit politischem Aktivismus. So kann die Geschichte von Leyla und ihrer Familie als Widerstand gegen die Narrative des Assad-Regimes verstanden werden. Othmann selbst gehe es aber eher um das Erinnern und Erzählen:
»Fernab des Politischen ist Leyla einfach eine Figur, die Menschen liebt. Eine Figur mit Schwächen und Stärken. Vielleicht verstehen die Leute dadurch besser, was politische Umstände mit Menschen machen.« Othmann im Interview auf jetzt.de
*So herrscht aktuell in dem mehrheitlich von Kurd*innen bewohnten Nordosten Syriens akuter Trinkwassermangel – als Resultat politischer Einflussnahme von Seiten der Türkei. Beispielsweise befindet sich die für die Region bedeutsame Trinkwasserpumpstation Aluk seit 2019 in Hand des türkischen Militärs. Allein bis Juni 2021 wurde die Versorgung vierundzwanzig Mal unterbrochen, oft für mehrere Monate – eine Machtdemonstration der Türkei und der Versuch, die Legitimität der syrisch-kurdischen Selbstverwaltung in der Region zu schwächen.