FÜR KURZGESCHICHTEN KONNTE SICH CHRISTIN HARPERING SCHON IMMER BEGEISTERN. DIE HERAUSFORDERUNG, IN DIESER KLEINEN FORM EINE GESCHICHTE ZU ERZÄHLEN. DIE ERZÄHLTRADITION, DIE IN SO VIELEN KULTUREN FUß GEFASST HAT. DER ANREIZ, SICH FÜR EINEN ABEND LANG IN EINER GESCHICHTE ZU VERLIEREN – VOM ANFANG BIS ZUM ENDE, UND SIE IN IHREM VERLAUF NICHT AUS DER HAND ZU LEGEN. MIT DIESEN DINGEN (UND MANCHERLEI ERWARTUNG IM HINTERKOPF) KAUFTE SIE JUDITH HERMANNS « NICHTS ALS GESPENSTER ».
Anstatt in einen Flieger zu steigen, bin ich während des Studiums vor allem durch meine Bücher gereist. Die Seiten der Romane, Novellen und Kurzgeschichten führten mich zum Beispiel auf die Straßen von Barcelona und New York, in den Amazonas und quer durch Indien. Die Texte führten und führen mich auf Zeitreisen in die Vergangenheit und in mögliche Zukünfte. Manchmal wurden die Orte so schillernd und wortgewaltig beschrieben, dass ich das Gefühl hatte, sie mit allen Sinnen wahrnehmen zu können. Bei anderen Malen gaben die Leerstellen im Text meiner Fantasie alle Freiheit, sodass ich mir die Erzählung individuell und in meiner eigenen Gedankenwelt aneignen konnte. Niemand dachte sich den beschriebenen Ort so wie ich. Auf diese Weise habe ich schon viele Orte bereist, ob sie nun existier(t)en oder nicht.
Die sieben Kurzgeschichten von Judith Hermann in ihrem 2003 veröffentlichen Band «Nichts als Gespenster» lassen den/die Lesende*n nach Karlsbad, Island, Norwegen, Nevada, Prag und Venedig reisen. Dabei werden Figuren begleitet, die nach der Liebe suchen, sie verlieren, sie nicht verstehen oder sie aufrecht erhalten möchten – die Liebe zwischen Paaren, Freunden, Eltern und Kindern.
Besonders die Erzählung Kaltblau aus dem Band ist mir eindrucksvoll in Erinnerung geblieben. Sie handelt von dem isländischen Paar Jonina und Magnus, das Besuch von Magnus‘ deutschen Freunden Irene und Jonas bekommt. Sie verbringen eine Woche zusammen und reisen durch das Land. Während dieser Zeit verliebt sich Jonina in Jonas und bringt das Gefüge der Gruppe durcheinander. Gemeinsam erleben alle vier Figuren eine sogenannte «blaue Stunde», ein Wetterphänomen der Dämmerung, wenn für einen kurzen Moment der Himmel in einem durchdringenden Blau leuchtet und die Umgebung in unwirkliche Farben taucht – «ein lichtes, tiefes, ungeheures Blau, das alle Welt zu versöhnen scheint und zehn Minuten anhält und dann verblasst, erlischt.»
Judith Hermann malt ihre Figuren in feinsinniger Sprache aus, sie verleiht ihnen kunstvolle Züge und lässt dennoch manches im Verborgenen. In den Erzählungen bleiben einige Dinge unausgesprochen, stehen aber gleichzeitig in voller Deutlichkeit im Raum. Die Autorin stellt den Desillusionen ihrer Figuren häufig tiefe Sehnsüchte entgegen und zeichnet damit ein starkes Bild von Melancholie. Die Symbolik von Farben und Wetterphänomenen spiegelt die Emotionen der Charaktere wider, Island mit seiner Schneelandschaft bildet hier eine große Leinwand.
Falls Sie noch keine Reisepläne für dieses Jahr haben, verreisen Sie doch nach Island, Venedig, Prag, Norwegen oder Karlsbad. Die Kurzgeschichten aus «Nichts als Gespenster» sind einen Besuch wert!