Schmökern im Corona-Shutdown – Teil 6

Schon lang ist es her, dass Charlotte Tappmeier den Roman »Das Labyrinth der Wörter« von Marie-Sabine Rogers in den Händen hielt. Aber immer wieder gern erinnert sie sich an die feinsinnige alte Dame, die Germain in die zauberhafte Welt der Bücher führt.

»Wörter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken einsortiert«, stellt der fröhliche – jedenfalls meistens – Mittvierziger Germain im Laufe seines Lebens fest. Wörter dienen nicht bloß der einfachen Kommunikation, Wörter helfen dem Menschen persönliche Empfindungen und Gedanken so genau wie möglich formulieren zu können. So viele Wörter stehen jedem Einzelnen zur Verfügung, man muss nur ein bisschen suchen, um das passende zu finden.

Für einen Mittvierziger ist diese Erkenntnis eine reichlich späte Erkenntnis. Schon damals in der Schule haben die anderen Kinder oft über ihn lachen müssen. Lehrer*innen haben ihn schikaniert wegen zu einfältiger Antworten auf wichtige Fragen. Manchmal antwortete Germain auch gar nicht. Seine Mutter, die ihn für ein Versehen hielt und ihn das bis heute noch immer spüren lässt, nannte ihn »Esel« oder »Trottel« – was, nebenbei gesagt, auch keine Wörter sind, die als besonders geistreich gelten.

Kurz gesagt: Germain kann nicht lesen, er ist nahezu ein Analphabet.

Germain befindet sich also, wortwörtlich, im Labyrinth der Wörter. Nicht nur, weil er nicht lesen und schreiben kann, sondern er verirrt sich regelrecht in der Vielzahl der Worte, denn sein Vokabular ist entsprechend eingeschränkt: eher vulgär als gebildet.

Eines Tages lernt Germain die 94-jährige, beinahe gebrechliche, Margueritte in Blümchenkleid auf einer Parkbank kennen. Sie gehen einem gleichen Hobby nach: Tauben zählen!

Margueritte ist eine pensionierte Akademikerin und in der Welt der Bücher, der Literatur und damit auch in der Welt der Worte zu Hause. Ganz anders als Germain. Diese Welt möchte sie fortan mit dem »Esel« teilen.

Der Roman beschreibt die stille, fast zaghafte, Geschichte der beiden Figuren auf einer Parkbank. Sie liest vor, er hört zu. Die Literatur und die vielen Wörter, die damit einhergehen, werden für Germain zu einer Entdeckungsreise. Und immer mehr verwandelt sich das zu Anfangs entwachsene Labyrinth zu neuen Wegen. Einer dieser Wege hätte sich Germain, und auch ich als Leserin, so nie ausmalen können. Dieser Weg streift beinahe das Wort Romantik, jedoch nur beinahe.

Ich habe mich als Leserin immer gefühlt, als würde ich ebenfalls einen Platz auf der Parkbank einnehmen und Tauben zählen.  

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