Das Literaturbüro OWL schickt einen der wohl bekanntesten Texte der Weltliteratur auf Reisen durch Ostwestfalen-Lippe: Lew Tolstois »Krieg und Frieden«. Jeden Tag geht es eine Etappe weiter – weiter durch das Epos und weiter durch die Region. Der literarische Staffelstab wird weitergereicht.
Rate 4: Filmquerschnitt
Von Audrey Hepburn über sowjetisches Heldenkino bis ins 21. Jahrhundert
Bei der Lektüre von »Krieg und Frieden« entstehen opulente Bilder vor dem inneren Auge; von herrschaftlichen Petersburger Gesellschaften, leichten Landpartien oder grausamen Schlachten. So ist es nicht verwunderlich, dass das Epos mehrfach verfilmt wurde. 1956 waren es Audrey Hepburn und Henry Fonda, die in einer Hollywood-Produktion erstmalig Natascha und Pierre vor der Kamera lebendig werden ließen. Die sowjetische Verfilmung zehn Jahre später wurde 1969 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Woody Allen näherte sich 1975 mit »Die letzte Nacht des Boris Gruschenko« dem Stoff satirisch. Die Europäer widmeten »Krieg und Frieden« kleine Serien, zuletzt 2016 in der BBC, in der die Ausstattung und die historischen Hintergründe natürlich das 17. Jahrhundert abbilden, die Protagonist*innen jedoch gut ins 21. Jahrhundert passen.
An dem Abend im bambi Programmkino sind Auszüge aus verschiedenen Verfilmungen zu sehen und liefern einen kleinen Querschnitt der Filmgeschichte von »Krieg und Frieden«. Der Sprecher Simon Roden liest Textsequenzen aus »Krieg und Frieden« und spannt damit einen inhaltlichen Bogen zwischen den verschiedenen Filmauszügen.
Text auf Raten – das Projekt
An vier aufeinanderfolgenden Abenden ist im Rahmen der Reihe »Text auf Raten« in vier Buchhandlungen in OWL »Krieg und Frieden« zu hören und es sind verschiedene künstlerische Adaptionen zu erleben. Natürlich kann dabei nicht der Text in Gänze zu Gehör gebracht werden, ausgewählte Sequenzen vermitteln jedoch unterschiedliche Perspektiven des Werkes, so dass ein Gesamteindruck entstehen kann: die für Tolstoi so prägende Darstellung seiner Personen, die sogar den scheinbar unwichtigen Nebenpersonen zu Charakter und Prägnanz verhilft; seine politischen und philosophischen Reflexionen, die ihm als Autor eine besondere Präsenz im Text verschaffen, der Blick auf die großen Persönlichkeiten und Momente der Geschichte ebenso wie auf die kleinen (zwischen)menschlichen Szenen.
»Krieg und Frieden« wurde vielfach neu gelesen, neu übersetzt und von den anderen Künsten bearbeitet. Im zweiten Teil der Abende ist immer jeweils eine andere Form der Adaption von »Krieg und Frieden« zu erleben – sei es als Reiseguide, musikalisch, filmisch oder literarisch.
So können die Besucher*innen mit dem Text losziehen und ihn jeden Tag ein wenig mehr, ein wenig anders kennenlernen. Es ist aber auch möglich, nur einzelne der Veranstaltungen zu besuchen. Einführungen zu Beginn ermöglichen es, den Staffelstab auch auf späteren Etappen zu übernehmen.
Rate 1: Roadbook
08. September 2020, VHS, Detmold
Rate 2: Tanzsequenzen
09. September 2020, Bücherstube Oelschläger, Lübbecke
Rate 3: Oper und Elektro
10. September 2020, Stadtbibliothek, Paderborn
Krieg und Frieden – das Epos
»Krieg und Frieden« gehört wohl zu jenen Werken, von denen viele Menschen sagen, es irgendwann unbedingt mal lesen zu wollen, durch den Umfang aber oft davor zurückschrecken. Das Werk erschien 1869 und spielt in einer für ganz Europa bedeutenden Umbruchszeit: der Zeit der napoleonischen Kriege. Es ist gleichermaßen Epochenchronik wie Panorama des russischen Lebens. Die ganze Gesellschaft jener Zeit zieht an den Leser*innen vorüber, von den höchsten Hof-, Adels- und Militärkreisen bis zu den leibeigenen Bauern und einfachen Soldaten. Petersburger Salons, Moskauer Fürstenhäuser, vornehme Diners, der Kaiserball in Petersburg, das Landleben adliger Familien in der russischen Provinz, die Schlachten von Austerlitz und Borodino, der Brand von Moskau, der fluchtartige Rückzug der Franzosen, das Lagerleben der Soldaten, die Mühsal der langen Märsche, die Qual der Kriegsgefangenen, die wahllose Hinrichtung vermeintlicher Brandstifter, der Partisanenkrieg – eine unermessliche Vielfalt von Szenen, Ereignissen und Episoden wird auf zweitausend Seiten in breiter Schilderung entrollt und verknüpft.
Für Virginia Woolf ist Lew Tolstoi »der größte aller Romancier« und Somerset Maugham sah in Tolstois »Krieg und Frieden« »zweifellos den größten Roman aller Zeiten«. Tolstoi selbst sträubte sich hingegen gegen den Begriff des Romans. Er verwahrte sich gegen jegliche Kategorisierung: »Der Kern dessen, was ich sagen wollte, besteht darin, dass dieses Werk kein Roman ist und keine Erzählung […] dass es keine Auflösung haben wird, mit der jedes weitere Interesse zerstört würde.« Das Interesse ist geblieben. Bei aller Gebundenheit des Buches an die Zeit der napoleonischen Kriege und die russische Gesellschaft besticht der Text heute noch durch seine Modernität und seine ungebrochene Aktualität, u. a. auch durch Tolstois theoretische, philosophische Reflexionen. Der Drehbuchautor Andrew Davies, der Krieg und Frieden 2016 für die BBC bearbeitete, fasste die rund 2.000 Seiten in einem Satz zusammen: »Krieg und Frieden« zeigt, was es bedeutet, lebendig zu sein und wie man in schwierigen Zeiten den richtigen Weg findet.›